Todesfall am Strand Reynisfjara - Kommt jetzt der Schilder- und Verbotewahn?

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Monique
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Todesfall am Strand Reynisfjara - Kommt jetzt der Schilder- und Verbotewahn?

Beitrag von Monique » Do 11. Feb 2016, 10:41

Viele von euch werden es sicher mitbekommen haben, dass kürzlich ein Tourist am Strand Reynisfjara zu Tode kam (siehe u. a. hier oder hier). Rufe nach "Aufpassern" vor Ort werden laut. Ob das sinnvoll ist? Ich war in den letzten Sommern regelmäßig am Strand und wer die Menschenmassen dort beobachtet, der ahnt, dass ein einzelner Aufpasser all den Unverstand nicht zügeln kann.

So tragisch dieser Todesfall ist, mir machen in dem Zusammenhang andere Sachen Sorgen. Insbesondere in den letzten beiden Jahren konnten wir zusehen, wie der Schilderwald in Island wuchs und weiter wächst. Wir alle kennen diese kleinen, niedlichen Schilder - wie groß sind sie, 10x10 cm?
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Aber wie ich finde: deutlich in der Landschaft zu sehen:
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Ich habe in den letzten Jahren immer zu meinen Gästen gesagt, dass man Island noch auf den gesunden Menschenverstand setzt, dass man sein Hirn hier noch benutzen darf. Da ist eine Klippe? Es sollte jedem klar sein, dass man da herunterstürzen kann und unten kein Auffangnetz wartet. In anderen Ländern ist das nicht so. Ich war zuletzt wieder mal in einem, in dem man mit Warnschildern gejagt wird - sie haben mich quasi in den Wahnsinn getrieben. Überall, an jeder denkbaren und undenkbaren Stelle stehen Schilder, die auf mögliche Gefahren und deren Konsequenzen hinweisen. Das Erschreckende war: Im Laufe der Wochen hörte ich auf, mich darüber aufzuregen und gegen diesen Wahnsinn aufzulehnen und stellte das Denken zum Teil ein. Ich hörte zum Teil auf, über Gefahren nachzudenken, weil ich keine Chance hatte - denn die Schilder waren schneller. Man kann bedenkenlos durch die Landschaft gehen, man wird ja rechtzeitig vor der nächsten Gefahr mit Schildern in allen Größen auf sie hingewiesen. Und nein, 10x10 cm geht gar nicht.
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Man wird nahezu gezwungen, den Kopf abzuschalten. Natürlich habe ich meinen wieder eingeschaltet. Aber was hängen blieb, war die Frage: Wie ergeht es den anderen und was machen sie, wenn sie nach Island kommen? Was tut ein Mensch, der es aus anderen Ländern gewohnt ist, dass er massiv auf alle möglichen Gefahren hingewiesen wird, der es nicht gewohnt ist, über solchen Sachen nachzudenken? Der übersieht doch die kleinen Schilder oder nimmt sie nicht ernst.

Je mehr Menschen nach Island reisen, um so mehr sind dabei, die statt des Kopfes auf Warnschilder setzen. Nach meinen Erlebnissen der letzten Monate kann ich das nicht mal verurteilen - sie wurden und werden so "erzogen". Wenn wir die Nachrichten verfolgen, lesen wir, dass sich mehr und mehr Menschen an der einen oder anderen Stelle in Island dumm in Gefahr begeben. Vermutlich wird der Schilderwuchs in Island dadurch weitergehen. Vermutlich wird es mehr und mehr Absperrungen geben. So, wie das in anderen Ländern zuvor auch passiert ist. Ich finde es total schade, aber es ist vielleicht nicht aufzuhalten.

Hinweis: Dieser Beitrag richtet sich nicht gegen den zunehmenden Tourismus! Es sind nur meine Gedanken zu den Schilder- und Verbotsauswüchsen, weil ich in den letzten Monaten auf massive und erschreckende Weise erfahren habe, wohin das führen kann und was das mit Menschen macht.

Monique
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Re: Todesfall am Strand Reynisfjara - Kommt jetzt der Schilder- und Verbotewahn?

Beitrag von geena837 » Do 11. Feb 2016, 16:17

Ich glaube vor allem, das viele Menschen heute schlicht nicht mehr in der Lage sind, ihre eigenen Fähigkeiten einzuschätzen bzw. Gefahrensituationen zu erkennen- dazu ist die Welt in der wir leben "zu sicher".
Außerdem ist so vieles reglementiert, das es manchen wohl herauszufordern scheint, genau das verbotene zu tun.
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Monique
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Re: Todesfall am Strand Reynisfjara - Kommt jetzt der Schilder- und Verbotewahn?

Beitrag von Monique » Do 11. Feb 2016, 16:44

Meine Erfahrung war eher, dass du es ganz schnell antrainiert bekommst - und das war das Erschreckendste für mich. Ein enormer Schilderwald macht dich stumpf. Ein zu viel an Schildern lässt dich das Denken einstellen; es wird dir antrainiert, kopflos durch die Gegend zu laufen. Ich hatte das auch in anderen Ländern schon erlebt, aber nach ein paar Jahren nur Island (mit der Möglichkeit, den Kopf normal zu nutzen), war es mir jetzt wieder extrem aufgefallen und es ist mir tatsächlich selber widerfahren.

Erkenntnis 1: Du wirst ganz schnell darauf getrimmt, den Kopf nicht zu benutzen. Immer mehr Schilder machen das immer schlimmer.
Erkenntnis 2: Du ignorierst den Schilderwald irgendwann. Man wird ja irre. Mehr oder größere Schilder aufzustellen bedeutet also nicht automatisch, dass sie mehr wahrgenomen werden.
Erkenntnis 3: Wer irgendetwas unbedingt will, lässt sich auch von Schildern und Absperrungen nicht aufhalten.

Beispiel 1 dazu - kleine Absperrung in Island:
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Beispiel 2 dazu - großer Bauzaun anderswo auf der Welt mit deutlich sichtbaren Schildern und Bildern und dem Hinweis, dass der Felsen einen Knacks hat und jederzeit abbrechen kann:
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Bei dem dritten Bild aus meinem ersten Beitrag war ich an der Stelle schon ungemein wütend. Es war erst die zweite Reisewoche, aber ich hatte so viele Warnschilder gesehen, dass mir schon schlecht war. Alleine auf dem Weg vom Parkplatz zu der Fotostelle (500 m) standen an die 20 Schilder - und jedes sagte mir: "Pass auf, es kann sein, dass du auf den nassen Steinen ausrutscht.". Ich war so wütend, dass ich aus Protest über den Zaun klettern wollte. Aus Prostet dagegen, dass man mir jedes eigenständige Denken absprach.

Ein Mehr an Schildern an Verboten bedeutet nicht, dass es dadurch sicherer wird. Es führt aber dazu, dass wir den Kopf ausschalten. Wenn das das Ziel ist ... Und ja, die Versicherungs-, Klage- und Absicherungsmentalität trägt ihren Teil dazu bei. Auf ins große Abenteuer ... aber nur mit Netz und doppeltem Boden ;).
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Re: Todesfall am Strand Reynisfjara - Kommt jetzt der Schilder- und Verbotewahn?

Beitrag von Blacky » Do 11. Feb 2016, 17:52

Ganz kurz zum konkreten Unfall, weniger zum Thema Schilderwahn: Nachdem was ich gestern gelesen habe, wurde der Verstorbene plötzlich von den Basaltsäulen runtergespült, obwohl das Meer (scheinbar) so ruhig gewesen sei, wie bisher nicht in diesem Winter. (http://icelandmonitor.mbl.is/news/news/ ... asalt_col/)
Es war also kein Depp der mutwillig bei starkem Seegang vorne an der Wasserlinie rumgeplanscht hat, so wie es einige der Fast-Verunfallten in den Tagen zuvor getan haben. Nachdem was ich über den Unfall gelesen habe, hätte es auch mich in den letzten Jahren treffen können, obwohl ich seit dem ersten Todesfall von vor ein paar Jahren weiss, dass an diesem Strand besondere Vorsicht notwendig ist.
Wie ein Ranger diesen Todesfall hätte verhindern können, würde mich interessieren...
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Re: Todesfall am Strand Reynisfjara - Kommt jetzt der Schilder- und Verbotewahn?

Beitrag von lena » Do 11. Feb 2016, 20:43

Das Problem ist, daß viele einfach gar nicht wissen und nicht wahrhaben wollen, daß es da auch diese Riesenwellen quasi aus dem Nichts heraus geben kann. Ich wußte es auch nicht bis mich eine isländische Reisegruppenleitung, die gerade auch dort war sehr erregt darauf ansprach, als ich mit meiner Freundin von der Höhle zurückkamen, wo wir bei zu der Zeit breitem Strand und ruhiger See gewesen waren. Das war damals nachdem dort jemand ertrunken war, was ich nicht mitbekommen hatte. Ich hielt das damals bei der ruhigen See für völlig überzogen, bis ich dann doch ein wenig mehr gelesen hatte.

Der gesunde Menschenverstand sagt einem, glatte See, schönes Wetter, ein bißchen an der Wasserkante spazieren gehen, das kann man tun, muß man halt aufpassen, daß man nicht mal nasse Füße bekommt, wenn's doch mal schwappt. Da gehen Reisegruppen hin und spielen, wer traut sich mit den Füssen ins kalte Wasser usw. Diese Einschätzung, wie man sie von den meisten anderen Stränden her kennt, führt regelmäßig dazu, daß Leute plötzlich tief im Wasser stehen und schlimmeres passiert, wenn daraus auch nicht gleich Todesfälle werden. Allein seit Jahresbeginn gab es mehrere kritische Vorfälle, einer davon fotodokumentiert. Letztes Jahr, glaube ich war es, als eine Frau ins Wasser gezogen wurde und von ihrem Mann, der daheim in Spanien Rettungsschwimmer ist, gerettet wurde. Weiter Vorfälle gab es in der Vergangenheit, in einem der verlinkten Artikel sind sie vermutlich genannt, ich habe sie jetzt nicht durchgelesen, nachdem ich die isländischen bereits kenne.

Klar, es ist Natur und man muß (und will ja auch!) damit Leben und wir wollen alle keine Absperrungen und Schilder allerorten für jeden letzten Idioten, der es dann gerade erst ignoriert, aber hier denke ich schon, daß es wirklich vernünftig ist, daß man sich überlegt, wie man eine dieser Haupttouristenanziehungspunkte sicherer macht.
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Re: Todesfall am Strand Reynisfjara - Kommt jetzt der Schilder- und Verbotewahn?

Beitrag von lena » Do 11. Feb 2016, 20:46

Blacky hat geschrieben:Ganz kurz zum konkreten Unfall, weniger zum Thema Schilderwahn: Nachdem was ich gestern gelesen habe, wurde der Verstorbene plötzlich von den Basaltsäulen runtergespült,
Schien erst so, aber wohl doch ein bißchen anders: http://icelandmonitor.mbl.is/news/news/ ... tograph_o/
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Re: Todesfall am Strand Reynisfjara - Kommt jetzt der Schilder- und Verbotewahn?

Beitrag von Monique » Do 11. Feb 2016, 22:01

Ich bin ja die letzten Sommer quasi im Wochentakt an diesem Strand gewesen und habe das Meer in allen möglichen Formen erlebt - ganz zahm, ganz wild, weit weg von der Höhle, ganz nah an der Höhle (in Abhängigkeit von Ebbe und Flut).
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Februar 2013

Man muss sich eigentlich nur ein bisschen Zeit nehmen bzw. geben, um es zu beobachten und dann bekommt man ein Gespür dafür, wie stark die Wellen sind, wie nah sie kommen können. Es waren aber immer wieder Leute zu beobachten, die ohne großartig zu schauen Richtung Meer gerannt sind oder die bewusst so weit wie möglich Richtung Wasser sind. Klar, es ist durchaus faszinierend, das Wasser und die Wellen dort zu fotografieren. Aber diese Menschen lassen sich weder durch noch mehr Schilder, noch durch Aufpasser davon abhalten. Und es steht ein riesig großes Schild am Zugang.

Wir haben auch immer wieder Menschen beobachtet, die von den Wellen erwischt wurden - einige wurden nur nass, andere sind auf die Knie gegangen. Ich habe z. B. auch in den Gruppen immer wieder darauf hingewiesen und gesagt: Achtet auf die Wellen! Und dennoch ist in nahezu jeder Gruppe irgendjemand nass geworden. Meist zum Glück nur an den Füßen. Ein einziges Mal bin ich bei fremden Menschen eingeschritten - eine Familie, die mit einem kleinen Kind ganz nah am Wasser spielte. Dieses Kind hätte niemand aus dem Wasser befreien können.

Aus den Erfahrungen heraus, aus dem, was ich dort immer wieder gesehen habe, sage ich: Du kannst es nicht verhindern. Du kannst noch so viele Schilder aufstellen, du kannst ein Aufpasser abstellen, du kannst es absperren - dennoch wird es dort immer wieder Vorfälle geben.
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Re: Todesfall am Strand Reynisfjara - Kommt jetzt der Schilder- und Verbotewahn?

Beitrag von NeitherErnie » Fr 12. Feb 2016, 00:09

Kann es sein, daß sich das Meer im Winter ne ordentliche Portion Kies einverleibt und bis zum Sommer wieder am Strand ablagert? Dieser freistehende Basaltstumpf ist mir noch nie aufgefallen und die Basaltstufen kenne ich auch im unteren Bereich als 'perfekt symmetrisch gewachsen'. Diesen verkrüppelt-erodierten Sockel habe ich noch nie gesehen, der wird wohl von besagtem Kies abgeschliffen und ist im Sommer/Herbst von 2-3 m Kies abgedeckt. Bei 'tiefergelegtem' Strand mit viel flacherem Winkel reichen die Wellen natürlich weiter an die Basaltwand heran und werden auch viel weniger abgeschwächt als ich es dort bisher kenne.

Bei der Sache mit Schildern und Rangern geht es mMn stark um rechtliches und versicherungstechnisches. Man wird nicht jedes Unglück verhindern können, aber man wird sich möglichst gut vor etwaigen Schadensersatzforderungen schützen können.
Zwischen Seyðisfjörður und Keflavík liegt nunmal eine kleine unwegsame lnsel namens Ísland (WERner)
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Re: Todesfall am Strand Reynisfjara - Kommt jetzt der Schilder- und Verbotewahn?

Beitrag von Monique » Fr 12. Feb 2016, 09:04

Kann es sein, daß sich das Meer im Winter ne ordentliche Portion (...)
In dem Winter 2013 hatte ich es zumindest beobachten können, dass der Strand durch die Winterstürme stark verändert wurde - Material wurde in großen Mengen abegtragen und/oder umgelagert.
(...) aber man wird sich möglichst gut vor etwaigen Schadensersatzforderungen schützen können.
Deswegen schrieb ich ja, dass die Absicherungs- und Klagementalität ihren Anteil daran hat. Anderswo ist es so, dass der Schilderwald aus genau dem Grund existiert. Und das nimmt Formen an, da staunt man Bauklötze! Das Problem wird sein, einen guten Mittelweg zu finden. Es bleibt zu wünschen, dass die Isländer nicht in unnötigen Aktionismus verfallen und anfangen, alles abzusperren und mit Schildern zuzupflastern. Zu viele Schildern führen nur zu weiterer Verdummung.
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Re: Todesfall am Strand Reynisfjara - Kommt jetzt der Schilder- und Verbotewahn?

Beitrag von marled » Fr 12. Feb 2016, 11:46

Und wie will man Unbelehrbare von ihrem eigenen Unglück abhalten? Mit körperlicher Gewalt, Polizeieinsatz, Arrest?
Neuestes Beispiel der Vorfall am Sólheimajökull, wo ein russische Ehepaar trotz intensiver Warnungen und Hinweisen der Mountainguides unbedingt allein auf den Gletscher wollte. Natürlich ist der Mann in eine Gletscherspalte gefallen und musste aufwändig geborgen werden.
http://www.visir.is/ferdamadur-haett-ko ... 6160219649
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